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Die Krux mit dem Kreuz

Die Tendenz zur Hyperlordose in der Bharata Natyam-Grundhaltung

Ob ein Mensch tanzt oder nicht, kann man im Alltag oft an seiner Haltung erkennen. Trainierte Tänzerinnen haben meist eine aufrechte Haltung, bewegen sich anmutig im Raum und wirken dadurch sehr selbstbewusst. Dass das Tanzen den Rücken stärkt und ein Bewusstsein für eine aufrechte Haltung vermittelt, bestreite ich nicht. Mittlerweile gibt es sogar Ärzte, die das Tanzen empfehlen, um sich eine verbesserte Haltung anzueignen.

In der Praxis sieht dies jedoch anders aus. Es wäre falsch zu denken, dass man mit einem Tanztraining automatisch einen gesunden und gestärkten Rücken bekommt. Entscheidend sind hierbei drei Aspekte:

  1. Die entsprechende Schulung des Lehrers
  2. Das Körperbewusstsein des Schülers
  3. Die Übungen, die den Rücken muskulär und kinetisch darauf vorbereiten, eine bestimmte Haltung anzunehmen

Ich wende mich in diesem Blog mal dem ersten Punkt zu, dem Vorwissen von Bharata Natyam-Lehrerinnen über die Strukturen, Beweglichkeit und Gefahren rund um die Wirbelsäule.

Zugegeben, ich habe noch nicht hunderte von indischen Tanzlehrerinnen getroffen, aber genug, um mir ein Bild zu machen, wie der allgemeine Wissensstand bezüglich der menschlichen Anatomie unter Bharata Natyam-Tänzerinnen ist. Die wenigsten haben eine Ahnung von der Wirbelsäulenbeweglichkeit in ihren einzelnen Abschnitten. Das Basiswissen zur entsprechenden Bauch- und Rückenmuskulatur ist zwar teilweise vorhanden, aber es wird in den wenigsten Fällen aktiv in das Training einbezogen.

Dass ein gerader Rücken gesund ist, ist allgemein bekannt, doch was heisst das? „Streck den Hals!“, „halte den Kopf aufrecht!“ oder „gerader Rücken!“, das sind die gängigen Anweisungen, die man aus dem Tanzunterricht kennt und die klug klingen, aber dem Schüler eine völlig falsche Vorstellung davon geben, was eine aufrechte Rückenhaltung ist. Liane Simmel beschreibt das sehr schön in ihrem Buch „Tanzmedizin in der Praxis“: „[…] mit diesen Korrekturbildern läuft man Gefahr, die Wirbelsäule zu stark zu fixieren, so dass ihre Elastizität verloren geht. Die Korrektur „Brust raus“ macht die Situation oft noch schlimmer. Eigentlich für die Aufrichtung gedacht, sieht man bei vielen Tänzern den gleichen Fehler: Sie ziehen die Schulterblätter nach hinten und strecken die unteren Rippen nach vorne, der Brustkorb wird geöffnet. Die Arbeit der Bauchmuskeln wird dadurch unnötig erschwert, […] Die Mobilität von Brustwirbelsäule und Rippen nimmt ab.“ (Simmel 2014:59-60).

Ebenso schlimm ist eine fehlende Korrektur bei offensichtlichen Haltungsfehlern, die aus dem Alltag übernommen werden. Das Hohlkreuz ist hierbei der Bekannteste. Gerade bei Kindern habe ich dieses Problem sehr oft gesehen. Wenn Mädchen ohne Vorschulung beginnen zu tanzen, ist ihre Bauchmuskulatur vielfach hypoton, d.h. vermindert, was dazu führt, dass das Becken nach vorne kippt. Da die neutrale Bharata Natyam-Haltung eine leichte Vorwärtsneigung des Brustkorbs verlangt, kann man als anatomisch ungeschulte Tanzlehrerin diejenigen Tänzerinnen mit Hohlkreuz fast nicht mehr erkennen. Falls das Hohlkreuz nicht bereits in der alltäglichen Körperhaltung vorhanden ist, kann es sich auch durch das Tanztraining und die besagte Vorwärtsneigung des Oberkörpers entwickeln. So oder so bleibt die Fehlhaltung unkorrigiert und wird bei langfristiger Stossbelastung durch das Stampfen zu einer Belastung, die die Wirbelsäule nicht schmerzfrei ertragen kann. Die Forschung bestätigt diesen Missstand. So haben Shiradha Pawar und Unnati Pandit in ihrer klinischen Studie „Study of lumbar lordosis and pelvic position in Bharatanatyam dancers“ (2015) festgestellt, dass 45% aller untersuchten Bharata Natyam-Tänzerinnen an einer Lendenlordose leiden. Das ist fast jede zweite Tänzerin! Die Höhe dieses Prozentsatzes zeigt, wie schwach die diesbezüglichen Kenntnisse der Bharata Natyam-Lehrerinnen sind, die diese Fehlhaltung eigentlich erkennen und korrigieren müssten. Wie Simmel zeigt (2014:59) gibt es einfache Erkennungsmerkmale und entsprechende Übungen, wie sich solche Fehlstellungen beheben lassen. Ich habe sie in einem kleinen Film hier nochmals zusammengefasst.

Mir wurde als Bharata Natyam-Schülerin immer wieder vorgeschwärmt wie gesund der indische Tanz ist – im Gegensatz zu Ballett, wo man mit 30 Jahren einen kaputten Körper habe – und wie gut die Bewegungen des Tanzes auf die menschliche Anatomie abgestimmt sind. Ich stimme diesem Anspruch zwar zu, ABER der Tanz macht das nicht von sich aus alleine. Es braucht einen kompetenten Tanzpädagogen, der über ein Basiswissen von Anatomie und Kinetik verfügt und der weiss, wie er mit den grundlegenden Haltungsproblemen umzugehen hat. Wenn ein Mädchen Muskulatur aufbauen sollte, um ein intensives Tanztraining durchzuhalten, dann hiess es „Geh wöchentlich schwimmen, das schont die Gelenke und stärkt die Muskulatur und Ausdauer.“ Ist das alles? Sehen wir mal ab vom Leichtsinn, wie man mit Körpern umgeht, die sich im Wachstum befinden. Und lassen wir für den Moment die Haltungsprobleme beiseite, die die jungen Menschen mit in den Unterricht bringen, verursacht durch den Schulalltag und dem vielen Sitzen. Können wir es uns leisten, es alleine der Tanztechnik und der Haltungsästhetik unseres Tanzstils zu überlassen, wie sich der Rücken hält?!

Bei vielen älteren indischen Tanzlehrerinnen kommt nun wahrscheinlich der Gedanke „Das hat bis jetzt Jahrzehnte lang funktioniert, warum ist das plötzlich ein Problem?“. Oder vielleicht denken sie auch, dass sie aufgrund ihrer Erfahrung und Menschenkenntnis das nötige Wissen über die körperliche Gesundheit bereits haben, auch ohne technisches Fachwissen. Ich möchte dem zweiten Punkt gar nicht widersprechen. Eine erfahrene, intuitive Lehrerin ist mindestens so wertvoll, wie eine theoretisch gebildete. Aber gegen den ersten Punkt wehre ich mich vehement. Es gibt keine Nachweise, dass indische Tänzerinnen nicht schon vor hundert Jahren an Lendenlordose oder anderen Rückenproblemen gelitten haben, das heisst aber noch lange nicht, dass sie nicht vorhanden waren. Der medizinische Fortschritt gibt uns heute so viele Möglichkeiten, es wäre dumm, sich die Erkenntnisse im Bereich der Tanzmedizin nicht wenigstens einmal anzuschauen. Im Ballett wurde dieses Thema schon aufgenommen und gehört in manchen Akademien mittlerweile sogar zum Lehrplan. Ich würde mir daher wünschen, dass auch die erfahrenen, älteren Bharata Natyam-Lehrerinnen sich von dieser Thematik mehr angesprochen fühlen, und dass mit diesen kritischen Fragen ihre Neugier geweckt wird.

Ich fordere alle indische Tanzlehrerinnen auf, nehmt Eure Verantwortung wahr! Man muss kein therapeutischer Experte sein oder ein Medizinstudium machen. Es gibt mittlerweile genügend Lektüre von kompetenten Autoren, die diese Themen verständlich und aufschlussreich beschreiben. Jeder, der regelmässig mit dem Körper arbeitet, hat bereits einen Erfahrungsschatz, den er anwenden kann. Die nötige Theorie dazu hat man schnell begriffen. Der Aufwand ist verhältnismässig klein, wenn man bedenkt, wie wichtig die Wirbelsäule für unser ganzes Leben ist.


Literaturhinweis:

Simmel, Liane (2014): Tanzmedizin in der Praxis. Anatomie, Prävention, Trainingstipps. Henschel Verlag.

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