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Körperspannung im Bharata Natyam

Zur Wichtigkeit der Haltungsschulung im Tanzunterricht[1]

In meiner langjährigen Unterrichtserfahrung habe ich immer wieder gesehen, dass sich Schüler beim Versuch, Körperspannung aufzubauen, total verspannen. In extremen Fällen, in welchen diese Verspannungen im Tanz regelmässig «trainiert» werden, kommt es in der Folge zu Schmerzen, die man durch Massage, Bäder oder sogar Schmerzpflaster lindern muss. Die häufigsten Verspannungen gibt es im Schulterbereich und in der Lendenmuskulatur am Rücken, aber auch im Nacken. Daher wurde mir klar, dass der Tanzschüler im Bharata Natyam von Anfang an verstehen muss, eine Verspannung von einer Anspannung zu unterscheiden. Das geht nur, wenn er lernt eine korrekte Körperspannung aufzubauen.

Die richtige Körperspannung im Tanz ist von der natürlichen Körperhaltung abhängig, die die Schülerin aus dem Alltag mitbringt. Wenn ich von Natur aus ein Hohlkreuz habe, dann verstärke ich dieses automatisch, wenn ich versuche, meinem Körper mehr Spannung zu verleihen. Muskeln die ohnehin schon verkürzt sind, werden unter noch mehr Spannung versetzt. Das fühlt sich zwar wie Körperspannung an, arbeitet aber in Wahrheit gegen eine gesunde tänzerische Haltung.

Typische Anweisungen im Tanzunterricht zur Haltung, die Schüler oft hören, sind «mach einen geraden Rücken!», «Brust raus!», «Schultern runter!», «zieh den Bauch ein!» usw. Eine korrekte und schrittweise Anleitung, wie man den Körper aufrichtet, ist das aber nicht. Vielleicht wollen einige Tanzlehrer den Schüler nicht mit zu viel Haltungsarbeit langweilen oder überfordern. Haltungsarbeit kann langwierig sein und verlangt Geduld. Ist der Schüler bereits ein Erwachsener, der sich seine Haltung schon über Jahre angewöhnt hat, ist es noch schwieriger. Das kann manchen Lehrer dazu verleiten, den Schüler zuerst mit ein paar Tanzschritten zu unterhalten, bis die Körperkoordination soweit entwickelt ist, dass man auch die Oberkörperaufrichtung in schnellerem Tempo bearbeiten kann. Aber nichts ist schwieriger und frustrierender, als eine falsch angelernte Haltung zu korrigieren.

Diese Haltung muss die Bharata-Natyam-Schülerin quasi untrainiert von Beginn an ihrer Ausbildung einnehmen. (© Sharmila Rao)

Es gibt auch Lehrer, die davon überzeugt sind, dass das Tanztraining den Körper automatisch in die korrekte Aufrichtung bringt. Auch das ist leider – wie ich aus eigener Unterrichtserfahrung weiss – ein Trugschluss. Ein untrainierter Körper wählt immer den Weg des geringsten Widerstandes. Muskeln, die bereits stark sind, spannen noch mehr an, und entlasten die untrainierten Muskeln, die überfordert sind. Das führt unausweichlich zu schmerzhaften Verspannungen. Das ist von aussen nicht immer ersichtlich. Von aussen kann bspw. ein Schulterbereich wunderbar ausgeglichen erscheinen, und erst die nagenden Kopfschmerzen des Schülers nach einigen Wochen weisen auf eine Schulterverspannung hin, die sich durch eine falsche Anspannung im Tanzunterricht kontinuierlich aufgebaut und verhärtet hat.[2]

In diesem Zusammenhang gibt es noch ein weiteres typisches Problem, welches ich vor allem bei sehr beweglichen Mädchen beobachtet habe. Aufgrund ihrer grossen Beweglichkeit bremst der Körper sie nicht, wenn sie gewisse Körperpartien überstrecken oder zu extrem anspannen. Der physische Toleranzbereich solcher Schülerinnen ist so breit, dass man es als Lehrer schnell übersehen kann, wenn man einschreiten müsste. Die Beweglichkeit dieser Mädchen erweist sich als versteckter Feind, denn es kann gut sein, dass sie fähig sind jahrelang in einer falschen Körperspannung wunderbar zu tanzen, ohne je körperliche Beschwerden zu bekommen. Ich werde in einem separaten Abschnitt darauf eingehen, warum und wie man überbeweglichen Schülerinnen besondere Beachtung schenken sollte.

Grundkenntnisse der Theorie

Wie schon beim Aspekt der Atmung, ist es auch hier unbedingt nötig, dass der Lehrer Grundkenntnisse der menschlichen Anatomie hat. Er muss verstehen, wie eine korrekte Körperaufrichtung aufgebaut wird und wie er sie anleiten muss. Veraltete Schemata wie der «gerade Rücken» oder die Anweisung «streck Dich!» sollten aus dem Wortschatz gestrichen werden. Solche Anweisungen wecken völlig falsche Assoziationen im Schüler. Streckt sich ein bewegliches Mädchen durch, endet das meist in einem starken Hohlkreuz und einer überstreckten Brust. Der Fehler wird im Profil ersichtlich. Ein überstreckter Rücken gleicht eher einer Banane und hat mit einem «verlängerten» und «gestreckten» Oberkörper rein gar nichts zu tun. Der sogenannte gerade Rücken ist ein anatomisches Unding. Jeder, der schon einmal das Profil einer Wirbelsäule studiert hat, weiss, dass diese niemals im geometrischen Sinne «gerade» werden kann, wozu also diese Anweisung?!

Die Wirbelsäule beschreibt eine sanft geschwungene S-Kurve, die ihren Sinn und Zweck hat. Die Stützfunktion dieser S-Kurve kann optimiert werden, indem man der Wirbelsäule die richtige Länge gibt, die sie braucht. Genau diese Länge ist es, die wir auch im Tanz anstreben. Die richtige Anweisung hier lautet daher Aufrichtung. Nur dieses Wort weckt die richtige Assoziation im Schüler, egal ob Anfänger oder Fortgeschrittener. Alleine die Aufforderung (ohne Anleitung!), dass der Schüler sich aufrichten soll, wird bewirken, dass er versuchen wird in die Höhe zu wachsen. Er wird dabei weder die Wirbelsäule versteifen noch überstrecken, sondern wird versuchen, den Oberkörper zu stützen und zu halten. Es bedarf dann nur noch weniger Erklärungen, damit er versteht, dass dies die einzig richtige Art ist, eine gesunde Oberkörperspannung aufzubauen.

Aufrichtungsprinzip

Es ist mein Anspruch, dass die Haltung im Tanz zu unserer physiologischen Gesundheit in Alltag beitragen soll. Nach meiner Erfahrung schöpfen die wenigsten Menschen in ihrer alltäglichen Körperhaltung das Potenzial eines aufrechten Oberkörpers aus. Im Tanz ist eine aufrechte Haltung aber elementar und Voraussetzung für alles weitere. Was Schüler diesbezüglich im Tanzunterricht dazu lernen, können sie daher auch auf ihr Leben ausserhalb des Tanzunterrichts übertragen.

Kernidee bei der Aufrichtung des Oberkörpers, wie ich sie praktiziere, ist das Pol-Prinzip.[3] Becken und Kopf stellen dabei die sich gegenüberliegenden Pole dar, zwischen welchen sich die Wirbelsäule aufspannt. Ziel ist es, dass die Wirbelsäule ihre optimale Stützfunktion entfalten kann. Optimal heisst hier, dass wir das Potenzial der Wirbelsäule nutzen möchten, sich zu verlängern. Sowohl das Becken als auch der Kopf haben die Fähigkeit, sich vor und zurück zu drehen. Neigt sich der Kopf zurück und fällt in den Nacken und drehen wir das Becken gleichzeitig in solcher Weise, dass sich der Po Richtung Decke hebt, dann verkürzen wir die Wirbelsäule. Drehen wir den Kopf nach vorne, so dass wir spürbar unseren Nacken verlängern, und drehen gleichzeitig das Becken so, dass der Po Richtung Boden sinkt, dann spüren wir bereits nach wenigen Zentimetern, dass sich die Wirbelsäule streckt bzw. verlängert.

Diese Zusammenhänge zwischen Kopf, Wirbelsäule und Becken können dem Tanzschüler mit einfachen selbstgemachten Modellen erklärt werden. Ich lege dazu jeweils zwei runde Gegenstände, wie z. B. zwei kleine Gymnastikbälle, auf den Tanzboden mit einem Abstand von etwa einem Meter. Das sind die Pole Kopf und Becken. Dann lege ich ein Theraband® von einem Ball zum anderen, so dass es sich an beiden Enden zur Hälfte um den Ball wickelt. Dazwischen forme ich das Theraband® in einem leichten S. Das ist die Wirbelsäule. Wenn man nun an einem Ball (oder an beiden) dreht und das Ende des Therabands® mitdreht, spannt oder staut sich das restliche Theraband® und veranschaulicht damit, was mit der Wirbelsäule passiert. Mithilfe dieses einfachen zweidimensionalen Modells konnte ich bis jetzt jedem Tanzschüler – auch Kindern – den Vorgang erklären, wie man eine verlängerte Wirbelsäule bekommt (denn ein glatt gestrecktes Theraband®sieht viel besser aus, als ein zusammengeknautschtes). Es lässt sich mit einem solchen Modell auch ohne viel Theorie erklären, was man genau tun muss. Der wichtigste Punkt in diesem Prinzip ist, dass sich die Bälle – also das Becken und der Kopf – drehen, und nicht verschieben, kippen oder neigen. Im oben beschriebenen Modell kann das gut sichtbar gemacht werden.

Die hier folgenden Übungsvorschläge bauen auf dieser Wissensbasis auf. Das heisst, die Tanzschülerin muss die kausalen Zusammenhänge zwischen Kopf und Becken verstanden haben, bevor diese Übungen sinnvoll angegangen werden können. Die Übungen sind nichts anderes als ein stufenweises Aufbauen und Anwenden des hier erklärten Pol-Prinzips am eigenen Körper. Dabei ist es wichtig, dass der Lehrer auf die Voraussetzungen bei seinen Schülern schaut. Jemand, der bspw. in seiner Alltagshaltung bereits zu einem Hohlkreuz neigt, muss das Becken mehr nach vorne drehen, als jemand, dessen Lendenwirbelsäule bereits die angemessene Länge hat.

Wichtig: Bei Allem, was direkte Arbeit mit der Wirbelsäule erfordert, ist Vorsicht geboten. Ich habe grossen Respekt vor der Verantwortung, die diese Körperarbeit mit sich bringt. Als Tanzlehrerin muss man bestimmte Haltungsschemata (Flachrücken, Hohlkreuz, Skoliose etc.) erkennen können, um die korrekten Anweisungen zu geben und um keinen Schaden anzurichten. Darum gilt hier auch wieder das, auf was ich noch oft hinweisen werde: Ein Studium dieses Themas ist Pflicht für jede Tanzpädagogin!

Becken-Übung

In einer ersten Übung wird die Drehfähigkeit des Beckens ausgelotet und entdeckt. Das Becken kann sowohl in liegender, als auch sitzender oder stehender Position hin und her gedreht werden. Ich spreche hier absichtlich von «drehen» und nicht von «kippen», obwohl letzteres beim Anleiten des Schülers vielleicht zielführender ist. Damit der Schüler aber das Prinzip versteht, und nicht einfach nur eine Übungsanweisung abspult, ist es wichtig, dass man sich die transversale Achse[4] durch das Becken vorstellt. Dafür bitte ich die Schüler jeweils, ihre Fäuste an die rechte und linke Seite der Hüfte zu halten, wie wenn sie eine Stange halten würden, die quer durch ihr Becken hindurch geht. Wenn sie an dieser Stange drehen, kippt das Becken nach vorne oder nach hinten. Das ist die Bewegung, die in den folgenden Übungen gesucht wird.

  1. In liegender Position kann man den Effekt, den die verschiedenen Beckenpositionen auf den Rücken haben, besonders gut demonstrieren. Dreht man das Becken ganz stark nach unten, bildet sich im Lendenbereich der Wirbelsäule ein starker Bogen, so dass man mit den Händen praktisch zwischen Rücken und Bodenmatte durchgreifen kann. Dreht man das Becken wiederum nach oben, schliesst sich dieser Bogen und der Rücken liegt fast flach auf dem Boden auf.
  2. In sitzender Position spürt man vor allem die Sitzbeinhöcker gut, die zwei bodengerichteten Spitzen des Beckenknochens[5]. Wenn man beim Sitzen mit den Händen unter den Po greift, dann spürt man diese sehr gut. Die Schüler sollen sich vorstellen, dass ein Lichtstrahl aus den Sitzbeinhöckern raus auf den Boden strahlt. Diesen Lichtstrahl gilt es nun nach vorne oder nach hinten zu richten. Das Becken dreht dann automatisch vor und zurück. Falls man Sitzbälle im Tanzstudio hat, kann diese Übung auch darauf gemacht werden. Das Vor- und Zurück-Drehen gestaltet sich darauf sogar noch einfacher.
  3. In stehender Position sollte man vor dem Spiegel stehen. Das Vor- und Zurück-Drehen des Beckens ist in dieser Position am schwierigsten und sollte erst geübt werden, wenn die Schülerin bereits im Liegen und Sitzen das Drehen des Beckens erfolgreich ausprobieren konnte. In einer späteren Übung kann man das Drehen im Stehen auch mit den verschiedenen Grundhaltungen im Tanz ausprobieren.

Bei allen drei Varianten beende ich die Übung jeweils damit, dass die Schülerin die Mitte beider Beckenhaltungen (extrem nach vorne bzw. extrem nach hinten gedreht) sucht. Es ist jeweils sehr interessant zu sehen, was haltungstechnisch die Mitte wäre und was die Schülerin als Mitte empfindet. Bei Leuten, die bspw. zum Hohlkreuz neigen, liegt die gefühlte Mitte näher beim Hohlkreuz, weil diese Haltung ihnen angenehm ist. Dieses Empfinden gilt es dann zu korrigieren. Die Schüler bauen so ein neues Haltungsgefühl auf, und je öfters die Übung wiederholt wird, desto näher kommen sich die gefühlte und die korrekte Mitte.

Kopf-Übung

Die nächste Basis-Übung beschäftigt sich mit der Drehfähigkeit des Kopfs. Sie ist im Prinzip identisch mit der Becken-Übung. Zuerst stellt sich der Schüler einen Stab vor, der durch den Kopf geht, von einem Ohr zum anderen. Wenn es hilft, soll er sich einen Zeigefinger an jedes Ohr halten, als würde er den Stab führen. Wenn er anfängt zu drehen, dreht der Kopf entweder nach vorne unten, oder nach hinten oben.

  1. In liegender Position ist der Effekt der verschiedenen Kopfpositionen besonders gut sichtbar. Dreht man den Kopf nach vorne, streckt sich die Nackenwirbelsäule und liegt fast flach auf der Bodenmatte. Das Kinn nähert sich dem Schlüsselbein (berührt es aber nicht!). Dreht man den Kopf wiederum nach hinten, entsteht im Nacken ein Bogen. Die Nackenwirbelsäule hebt sich vom Boden ab und staucht sich zusammen.
  2. In sitzender Position spürt man vor allem die Streckung der Nackenwirbelsäule gut, wenn man den Kopf nach vorne dreht. Hier kann man auch gut eine fehlerhafte Kopfdrehung beobachten. Wenn der Schüler ein Doppelkinn bekommt und das Kinn gegen den Hals zu pressen beginnt, kippt er den Kopf, anstatt ihn um die transversale Achse zu drehen. Das rückwärts Drehen des Kopfes sollte keine Probleme machen. Es geht für die meisten Schülern ganz einfach, da in meiner Erfahrung viele Menschen eine Alltagshaltung mit einem leicht verkürzten Nacken haben.
  3. In stehender Position sollte man vor dem Spiegel stehen. Das Vor- und Rückwärts-Drehen des Kopfes ist in dieser Position – wie schon beim Becken – am anspruchsvollsten und sollte erst geübt werden, wenn die Schülerin bereits im Liegen und Sitzen die Übung erfolgreich ausprobieren konnte. In einer späteren Übung kann man das Drehen im Stehen auch mit den verschiedenen Grundhaltungen im Tanz ausprobieren.

Aufrichtung durch Kopf- und Beckenbewegungen

In diesem letzten Schritt werden Kopf und Becken so miteinander kombiniert, dass man indirekt mit der Wirbelsäule arbeiten kann. Man muss in verschiedenen Schritten arbeiten, damit der Schüler lernt, die Aufrichtung langsam aufzubauen.

Schritt 1:

Der Schüler steht vor dem Spiegel. Die Füsse sind zusammen, die Hände sind in der Hüfte eingestützt, die Augen blicken gerade aus, die Ellbogen schauen zur Seite und sind nicht nach hinten gedrückt.

Schritt 2:

Zuerst wird der Kopf in die richtige Position gebracht. Der Schüler soll die Länge im Nacken suchen, indem er den Kopf so weit nach vorne dreht, bis er die gewünschte Haltung erreicht hat. Einige Kontrollpunkte helfen, um die richtige Haltung zu finden:

  • Die Augen schauen gerade aus.
  • Das Kinn steht in einem 90° Winkel zum Boden.
  • Man stellt sich ein Lichtstrahl vor, der aus dem obersten Punkt des Schädels heraus scheint. Dieser sollte geradeaus an die Decke leuchten.

Schritt 3:

Die Aufmerksamkeit wechselt nun zum Becken. Das Becken wird in die Richtung gedreht, die die Wirbelsäule verlängert. In den meisten Fällen ist das eine Drehung in Richtung Boden. Man spürt und sieht in der Regel, dass nach dieser Drehung die Kurve im Lendenbereich des Rückens abflacht. Die Haltung des Beckens kann nur gehalten werden, wenn auch die gesamte Rumpf- und Beckenbodenmuskulatur aktiviert werden. Somit sollte der Schüler eine komplette Oberkörperspannung verspüren, wenn er diesen Schritt abgeschlossen hat.

Der Schüler soll in der neugewonnenen, aufgerichteten Haltung einen Moment verweilen. Er soll sich seiner Körperspannung bewusstwerden. Er atmet ruhig und regelmässig. Alles in allem wird der Schüler realisieren, dass er durch die Ausrichtung des Kopfes und des Beckens nicht nur eine verlängerte Wirbelsäule bekommen hat. Der gesamte Oberkörper ist nun darauf ausgerichtet, die eingenommene Haltung zu stützen und zu halten. Die Bauchmuskeln sind aktiv, der Beckenboden arbeitet, die Schultern sind entspannt, der Nacken ist lang, der Blick ist fokussiert, der Brustkorb hat ideale Voraussetzungen um zu atmen. Dies ist die erwünschte Körperspannung – ohne zu verkrampfen – die es auch im Tanz zu halten gilt. Eine solche ausgeglichene Körperspannung kann man nicht erreichen, wenn man einzelne Muskelgruppen einfach anspannt (z.B. Bauch oder Po). Auch der Rücken bekommt nicht die Länge und die Dehnung, die er durch diesen schrittweisen Aufbau erlangt. In diesem Zusammenhang lehre ich meinen Schülern ein wichtiges Prinzip:

Spannung und Entspannung gehen Hand in Hand!

Körperspannung im Tanz wird nicht nur durch masslose Anspannung erreicht. Damit die Spannung bspw. im Bauch ihre Wirkkraft voll entfalten kann, ist es nötig, dass sich die Lendenmuskulatur entsprechend dehnen oder verlängern kann. Damit sich die Brust in positiver Spannung aufrichten kann, müssen die Schultern fähig sein, loszulassen.

Mit einer entsprechenden Kräftigung des gesamten Körpers, sei es durch Krafttraining oder dem begleitenden Tanzunterricht, wird diese Art des Spannungsaufbaus im Oberkörper der Schülerin nicht nur mehr Stabilität verleihen, sondern auch mehr Ausdruckskraft und ganz allgemein eine gesündere Haltung, von der sie auch im Alltag profitieren wird.

Körperspannung bei Kindern

Die oben beschriebene Anleitung für einen aufgerichteten Oberkörper mit idealer Körperspannung bei Erwachsenen und Jugendlichen, macht für Kinder erst ab dem 9. Lebensjahr Sinn, tendenziell aber eher noch später. Sie müssen eine gute Körperbeherrschung haben und die Bewegungen des Körpers soweit isolieren können, dass sie einer abstrakten Bewegungsanleitung folgen können.

Das heisst aber nicht, dass man Kinder nicht schon früher für das Thema der Körperspannung sensibilisieren kann oder soll. Im Gegenteil, es gibt tolle Spiele und Übungen, die man als Unterrichtseinstimmung mit den Kindern durchführen kann, und die den Kindern beibringen, wie sich eine Muskelanspannung im Gegensatz zu einer Muskelentspannung anfühlt. Wie explizit man das Thema mit den Kindern anspricht, ist abhängig vom Alter der Kinder und dem Stundenaufbau der Unterrichtsperson. Manchmal sind die Kinder einfach nicht in der Stimmung, dass man ihnen lange Vorträge hält über die Anatomie und die Muskeln. Da empfiehlt es sich, einfach Übung an Übung zu reihen und den Körper im Unbewussten lernen zu lassen. Aber oft sind auch kleinere Kinder sehr an ihrem Körper und seiner Funktionsweise interessiert. Solche Momente sollte man unbedingt nutzen, um ihnen das Thema näher zu bringen. Dafür gibt es ganz einfache Beispiele. Am meisten Gelächter gibt es in meinen Stunden, wenn ich alle auffordere mir ihre Armmuskeln zu präsentieren. Dann stellen sich sofort alle wie ein Mini-Bodybuilder hin und winkeln die Arme an wie Mister Popeye. Sofort gibt es ein Wetteifern, wer wohl die grössten Muskeln hat. Weil man den angespannten Bizeps auch bei jüngeren Kindern gut erkennen und fühlen kann (und jedes Kind hat vom vielen Spielen einen sichtbaren Bizeps), kann man den Kindern in dieser Situation sehr anschaulich erklären, was ein angespannter Muskel ist.

Hier sind ein paar Übungsbeispiele, die ich immer wieder in den Unterricht einbaue, um die Kinder für die Körperspannung zu sensibilisieren und um ihre Wirbelsäule für eine spätere systematische Aufrichtung vorzubereiten. Es gibt dabei ganz viele Ansätze und unendlich viele Übungsideen. Ich nenne hier die wichtigsten Ansätze mit jeweils einem Übungsbeispiel:

Elastischer Rücken, Beckenbeweglichkeit

Runder Rücken
Auch für Erwachsene ist diese Übung nützlich. (© Sharmila Rao)

Ein Klassiker ist der Katzenbuckel und der jaulende Wolf. Die Kinder stehen im Vierfüsserstand auf dem Boden. Zuerst formen sie ihren Rücken zu einem runden Buckel. Dabei neigen sie den Blick nach unten. Ich unterstütze sie zusätzlich noch mit der Aufforderung, dass sie den Bauchnabel aktiv in Richtung Zimmerdecke drücken sollen. Damit aktivieren sie automatisch auch die Bauchmuskulatur und drehen das Becken noch ein Stückchen weiter. Dann lösen sie den Katzenbuckel langsam auf und werden zum jaulenden Wolf. Dafür lassen sie den Rücken durchhängen (bitte darauf achten, dass es langsam geschieht), und legen den Kopf in den Nacken mit dem Gesicht Richtung Decke. Dass beide Haltungen jeweils mit lautstarkem Miauen und Jaulen begleitet werden, ist klar. Aber sonst macht es ja auch keinen Spass! Die grösseren Kinder fordere ich nach mehrmaligem Wechseln zwischen den zwei Positionen auf, die Mitte zwischen beiden Haltungen zu suchen und sich diese zu verinnerlichen.

Körperspannung im Rumpf

Baum-Übung mit Kindern
Die Übung lässt sich auch mit jüngeren Kindern machen, die noch nicht in der Ardha-Mandali-Position stehen sollten. (© Sharmila Rao)

Ein aussagekräftiges Bild für einen starken und stabilen Rumpf lieferte mir immer die Vorstellung eines dicken und festen Baumstamms. In der wichtigsten Grundhaltung des Bharata Natyam, dem ardha mandali, ist diese Übung etwas effektiver, als im Stehen. Aber die Übung lässt sich in verschiedenen Beinhaltungen durchführen. Die Kinder stehen vor dem Spiegel und breiten die Arme aus. Sie sind ein Baum, ein knorriger, alter Baum, dessen Wurzeln tief in den Boden reichen. Sie sind fest im Boden verankert. Ihr Rumpf ist der Baumstamm. Nun kommt ein Sturm, der Wind ist stark, die Äste im Baum wehen hin und her. Aber der Stamm des Baumes bleibt fest. Man kann um diese Übung eine ganze Geschichte bauen. Wichtig ist die Vorstellung der Äste, die im Wind nachgeben, und des Stammes, der trotz starkem Sturm, bleibt, wie er ist. Im Spiegel können sich die Kinder selbst kontrollieren. Die Übung hat sich bei manchen meiner kleinen Schüler so verinnerlicht, dass ich ihnen im Tanz zurufen kann, «sei stark wie ein Baumstamm!» und sie bauen sogleich eine formidable Körperspannung im Rumpf auf.

Kopfbeweglichkeit

Der Kopf braucht in der Regel mehr Entspannung, als Anspannung. Heutzutage sind schon die jüngeren Kinder etwas versteift im Nacken- und Schulterbereich. Daher mache ich hier eine Entspannungsübung. Die Übung kann im Sitzen oder Stehen gemacht werden. Schön ist es, wenn die Kinder im Kreis sind. Den Kopf lassen sie hängen und stellen sich vor, er sei eine grosse, schwere Kirchenglocke (kann auch etwas anderes sein, sollte auf jeden Fall aber eine grosse schwere Glocke sein, die nur langsam schwingt und tief klingt). Die Kinder imitieren den Klang einer solchen Glocke und lassen den Kopf dabei hin und her schwingen. Bitte diese Übung ganz vorsichtig anleiten, damit die Kinder nicht mit zu viel Kraft ran gehen. Das Ziel ist, dass sich der Nacken etwas entspannen kann und die Muskulatur gleichzeitig etwas gedehnt wird.

Entspannung – Anspannung

Für jüngere Kinder sind «Anspannung» und «Entspannung» zu abstrakt, sie können selten Anweisungen, die im Zusammenhang damit stehen, ausführen. Die folgende Übung bringt es ihnen spielerisch bei. Am besten eignet sich ein zeitnahes gesellschaftliches Ereignis, wie Ostern oder Weihnachten, dann kann man die Übung gleich damit verbinden. Die Kinder sind aus Schokolade, je nach Jahreszeit eben Nikoläuse, oder Osterhasen (im Sommer kann man auch ein Eis sein). Eine entsprechende Haltung muss eingenommen und gehalten werden. Nun stehen sie in der prallen Sonne und schmelzen langsam dahin. Vor der Übung sollte man mit den Kindern kurz besprechen, dass der Teil natürlich zuerst schmilzt, der der Sonne am nächsten ist. So haben die Kinder einen Ansatz, womit sie beginnen müssen. Zuerst knickt der Kopf weg, dann fallen die Schultern ein. Als nächstes werden die Arme weich, und dann der ganze Rumpf samt Rücken. Die Beine geben zuletzt nach. Am Ende zerfliesst man als Schokopfütze am Boden. Mit Musikbegleitung wird die Übung zu einem Spass, den die Kinder mehrmals wiederholen wollen. Dazu stellen wir die geschmolzene Schokolade wieder in den Kühlschrank, dort wird sie hart. Und das Spiel beginnt von Neuem.

Solche und ähnliche Übungen helfen den Kindern, verschiedenen Aspekte im Zusammenhang mit Körperspannung und Rückenhaltung intuitiv zu verinnerlichen und vermindern später das Risiko, dass extreme Verspannungen oder falsche Haltungsmuster ihre tänzerische Körperspannung stören.

Fazit

Ich habe hier versucht, meinen Anspruch als Tänzerin und meine Erfahrung als Tanzlehrerin zu verbinden. Ich habe in all den Jahren in meinem Beruf gelernt, dass es keinen Aspekt im Tanz gibt, den man selbstverständlich voraussetzen sollte. Die Körperspannung gehört zu diesen selbstverständlichen Voraussetzungen im Tanz. Als Tanzlehrerin ist es meine tägliche Herausforderung herauszufinden, welche Unterstützung meine Schüler von mir brauchen, um sich zu verbessern. Dabei lerne ich selbst immer wieder Neues in meinem Beruf und in meiner Kunst, und finde immer bessere Wege, das Wesentliche zu vermitteln. Dabei verfolge ich ganz gezielt den Anspruch gesunden Tanz zu lehren und meinen Schülern ein tieferes Verständnis darüber zu geben, was sie tun. Körperspannung ist in unserem Leben absolut elementar. Daher sollten wir unbedingt jeden Tanzschüler gerade in diesem Bereich mit grosser Genauigkeit und Hartnäckigkeit trainieren, damit er den grösstmöglichen Nutzen daraus für alle Lebensbereiche ziehen kann.

Fussnoten

[1] Ich behandle hier die Körperspannung in Bezug auf eine korrekte Haltung. Das bezieht sich vor allem auf den Oberkörper. Die Körperspannung in den Beinen wird im Kapitel zur korrekten Beinachse behandelt. Allgemein beziehe ich aber im Tanz die Körperspannung hauptsächlich auf den Oberkörper.

[2] Hier spielen natürlich oftmals noch andere verstärkende Ursachen mit, wie langes Arbeiten am Computer oder andere Arbeiten in monotoner Haltung, die den Körper einseitig belasten.

[3] Ich folge bei der Oberkörper-Aufrichtung dem Pol-Prinzip aus der Spiraldynamik®. Das Bewegungskonzept der Spiraldynamik® hat sich in meiner Arbeit als Tänzerin und Tanzlehrerin sehr bewährt. Es fliesst an vielen Stellen in diesem Buch Knowhow ein, welches ich durch meine Ausbildung in der Spiraldynamik® erworben und erfolgreich in der Praxis angewandt habe.

[4] Die transversale Achse ist auf der Ebene, die von rechts nach links durch den Körper geht. Die Achse verläuft immer parallel zum Boden, sie ist also horizontal.

[5] Ein künstliches Skelett gehört in jede professionelle Tanzschule. Mindestens das Modell einer Wirbelsäule mit Becken. Wenn man den Schülern die Sitzbeinhöcker an einem Modell zeigen kann, haben sie ein Bild des Knochenbaus vor Augen und lernen dabei viel mehr, als nur ihre Sitzbeinhöcker zu lokalisieren.

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